Julia Otto

Was sehen wir?
Zur Kunst von Laurenz Theinert

Text zum Katalog der Ausstellung 
„Fehlende Dunkelheit“ im Museum Ritter Waldenbuch, 2024

36 schwarze Trapezformen – alle unterschiedlich groß und unterschiedlich verzerrt – sind vor der weißen Wand angeordnet. Eine Sortierung ist zu erkennen: von groß nach klein, von innen nach außen, von oben nach unten. Mit etwas Abstand betrachtet, besetzen sie zusammengenommen ein annähernd quadratisches Stück Wandfläche. (Abb. S. 8) 
 
Was sehen wir? Laut Werkangabe sind es 36 klassische Schwarz-Weiß-Fotografien: Silbergelatine-Prints auf Aluminium, mit Maßen zwischen 5 x 5 und 15 x 15 Zentimetern. Moment mal?! Das sollen Fotografien sein? Aber es ist doch gar nichts darauf zu sehen!
 
Und genau das ist es, was Laurenz Theinert hier fotografieren wollte: Nichts. Oder genauer: den dunklen Leerraum im Rahmen des scheibenlosen kleinen Fensters einer alten Scheune. Und zwar einen kompletten Film voll, 36 Bilder mit 36 Ansichten desselben Motivs von verschiedenen Standpunkten aus aufgenommen. Anschließend hat er all das weggeschnitten, was nicht zu seinem Motiv gehörte, den Rahmen, den Raum – kurzum: alle Anhaltspunkte, die uns das Erkennen, Verorten und Deuten dieses „Nichts“ hätten ermöglichen können. Nur, dass es dann nicht mehr „Nichts“ gewesen wäre, sondern eben ein scheibenloses Fenster einer alten Scheune im niedersächsischen Dörfchen Lehmden. Im Titel Lehmden 1994/1 findet sich der letzte kleine Hinweis darauf, dass Theinerts „Nichts“ nicht überall und immer ist, sondern dass die Fotos – im besten dokumentarfotografischen Sinne – etwas abbilden, das der Künstler tatsächlich genau in dieser Form in einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort vorgefunden hat.
 
Darüber hinaus hat Theinert aber noch etwas anderes dokumentiert: Dass zum Einfangen des einzigartigen Moments, der schließlich zum Foto wird, mehr gehört als das Drücken des Auslösers. Indem er nicht ein Foto präsentiert, sondern 36 Fotos desselben Motivs am selben Ort am selben Tag, aber von unterschiedlichen Standpunkten aus, zeigt er – als zentrales Element des fotografischen Prozesses – die Ergebnisse der Bewegungen, die er selbst vor Ort ausgeführt hat, um das Motiv festzuhalten. 
 
„Gute Fotografie ist eine Bewegungskunst. Es geht um den richtigen Standpunkt, die Suche danach – der Rest ist Technik“, sagt Laurenz Theinert über das künstlerische Medium, mit dem er sich seit über vierzig Jahren auseinandersetzt.1 Schon als er in seinen Zwanzigern war, nahm sein fotografisches Schaffen immer stärker abstrakte und konzeptuelle Formen an. Er kam an den Punkt, dass ihn der Weg zum Bild mehr interessierte als das fertige Foto: „Statt zu fotografieren, wollte ich Wegbeschreibungen machen und es den Leuten überlassen, das Motiv zu finden und zu fixieren.“
 
Mit der Entscheidung, nicht nur eine einzige Aufnahme des Motivs zu zeigen, sondern gleich ein ganzes Bildfeld aus 36 verschiedenen Perspektiven, offenbart Theinert seinen Zweifel an der Aussagekraft des subjektiv gewählten Ausschnitts. Gibt es ihn überhaupt, den einen „richtigen“ Standpunkt? Wie viel Wirklichkeit, wie viel Erkenntnismöglichkeit steckt darin? „Ich glaube, wenn man in der Lage ist, mehrere Standpunkte gleichzeitig einzunehmen, kann man einen größeren Zusammenhang erkennen.“
 
Noch einmal die Frage: Was sehen wir? Sind es 36 im Raster gehängte Einzelteile oder macht unser Kopf aus der Verteilung, Größe und Form der Elemente nicht vielmehr ein neues, völlig anderes „Bild“? Sogar mit 3D-Effekt! Die Verteilung und Gewichtung der Details ist gerade so gewählt, dass sich unsere Wahrnehmung nicht genau fixieren lässt. Sondern sie schwingt zwischen der Aufmerksamkeit für das Einzelelement und dem Blick auf das Ganze hin und her. So treten neben dem eigentlich Sichtbaren auch die Prozesse, die zwischen Sehen und Deuten ablaufen, ins Bewusstsein und werden zum Gegenstand von Beobachtung. 
 
Über das Hinterfragen und Reflektieren des fotografischen Prozesses gelangte Theinert schon in den 1990er-Jahren zu Fragen nach den Abläufen und Bedingungen von Wahrnehmung und Erkenntnis. Der Versuch, das eigentlich nicht zu fotografierende „Nichts“ im Bild zu fixieren, setzt den Startpunkt für ein zentrales Prinzip seines Schaffens. Es ist die auf den ersten Blick absurd wirkende Herausforderung, in einem visuell zu erfahrenden Werk den Blick auf genau das zu richten, was sich der Sichtbarkeit eigentlich entzieht.
 

Exemplarisch hierfür ist die Serie Randerscheinungen, in der er nicht das Motiv im Zentrum zum Bildthema macht, sondern die Peripherie des Motivs am Bildrand. (Abb. S. 10, 38) Er erreicht dies durch die Auswahl von Objekten (Briefkasten, Hauswand, Mauer, Schild, Laternenpfahl …), die er als fast formatfüllende Flächen fotografiert und zusätzlich per digitaler Nachbearbeitung mit einer Maske in ähnlichem Farbwert überdeckt. In vielen Arbeiten ist diese monochrome Farbform zusätzlich durch einen dicken Kunststoffblock aus der Bildfläche hervorgehoben, der dem Blick wie ein Klotz den Weg versperrt. Visuell lesbar bleibt vom Foto nur ein wenige Millimeter schmaler Randstreifen, aus dem wir in aufwendiger Interpretationsarbeit Informationen entschlüsseln dürfen und der dabei mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Laurenz Theinert verweist damit auf das Phänomen des peripheren Sehens. Es bezeichnet das Wahrnehmen in den Bereichen des Gesichtsfeldes, die nicht auf dem Zentrum der Netzhaut (Fovea) abgebildet werden. Anstatt also wie beim fovealen Sehen ein Objekt zu fokussieren und scharf zu stellen, schaut man beim peripheren Sehen praktisch am Objekt vorbei. Das periphere Sehen nimmt den größten Teil unseres Gesichtsfeldes ein (99,9 %), es stehen ihm aber nur 50 % der Leistungen von Sehnerv und visuellem Kortex zur Verfügung. Die anderen 50 % nimmt das foveale Sehen in Anspruch. Wichtig ist das periphere Sehen für die Wahrnehmung von Bewegungen und für das Sehen in Dämmerlicht oder Dunkelheit – also immer dann, wenn wir etwas mit den Augen nicht genau zu fassen kriegen. Ohne das periphere Sehen wären wir im Alltag aufgeschmissen. Es zeigt uns Strukturen und Zusammenhänge schon bevor wir in der Lage sind, etwas bewusst und klar zu erkennen. Es erlaubt uns, instinktiv zu handeln, zum Beispiel auszuweichen, wenn etwas schnell auf uns zukommt. Es hilft bei der intuitiven Orientierung. Es macht uns scheinbar hellsichtig immer dann, wenn es unmöglich ist, „richtig“ zu sehen. 
 

Für Laurenz Theinert hat das periphere Sehen auch eine philosophische Dimension: „Ich sehe es als Aufgabe der Kunst, Randerscheinungen zu beobachten, um zu erahnen, was zukünftig geschehen könnte. Mein Gefühl ist, dass wir rückwärts durchs Leben laufen. Wir kennen die Vergangenheit, darum schauen wir nach hinten. Wenn wir meinen, eine Idee zu haben, was die Zukunft bringt, projizieren wir meist Ideen aus der Vergangenheit nach vorne. Wirklich erforschen kann man das, was kommen könnte, nur, wenn man sich dieser Projektionen bewusst ist.“

In weiteren experimentellen Versuchsanordnungen beobachtet er die Auswirkungen und das Potenzial von Kameratechnik und digitaler Bildbearbeitung für eine nicht-subjektive Gestaltung von Fotografie. Ein Beispiel ist die Arbeit Tagundnachtgleiche (1999), bei der Theinert identische, aneinandergrenzende Ausschnitte von Himmel und Wand im Abstand von 30 Minuten immer wieder fotografierte. (Abb. S. 16/17) Die Kameraeinstellung überließ er der Belichtungsautomatik, die eine verblüffend spannungsvolle Reihe von Farbflächen unterschiedlichster Tönung, Helligkeit und Kontraste erzeugte von etwas, dem wir, sobald wir es einmal erfasst haben, oft nur eine Färbung zuschreiben und es dann auch so in unserer Vorstellung sehen. Weil wir „wissen“, dass die Wand weiß ist, speichern wir dies als Seheindruck ab. Das tun wir auch, wenn der tatsächliche Seheindruck ein anderer ist, zum Beispiel wenn durch Einwirken von Schatten, Licht oder Reflexionen eine mit weißer Farbe gestrichene Wand eine andere Färbung hat als Weiß. Wer selbst malt, kennt das Problem nur zu genau: Es erfordert viel Training, um „gewusste“ Farben auszublenden, um auf der Bildfläche etwas herzustellen, das einen ähnlichen Seheindruck erzeugt wie das, was es abbilden soll. Der Vergleich zwischen unseren im Denkprozess „gefärbten“ Wahrnehmungen und dem, was die Kamera(-Automatik) „sieht“, ist immer wieder verblüffend. Und auch irritierend: Wer sieht denn jetzt, wie es wirklich ist, das Auge oder das Objektiv?
 
Ein anderes Farb-Licht-Experiment von Laurenz Theinert nahm seinen Anfang an einem Schlechtwettertag 2013 in Luzern, den der Künstler in trüber Stimmung streunend in der Stadt verbrachte. Die bedrückende Seelenlage, eine Melange aus Ereignismangel und Einsamkeit, fing er mit einer Serie Fotografien von grauen Flächen und Objekten ein, die er später im Hotelzimmer mit einem Bildbearbeitungsprogramm spielerisch umkrempelte. (Bsp. S. 2, 12) Er machte seine Bilder unscharf, bis kein Gegenstand mehr erkennbar war und nur noch Farbwerte übrigblieben: Regengrau, Nebelgrau, Asphaltgrau, Schattengrau, Fenstergrau, Himmelgrau, Wolkengrau, Betongrau. Nur jetzt ohne Regen, Nebel, Asphalt, Schatten, Fenster, Himmel, Wolke, Beton. Das reine Grauen, sozusagen. Die Wende brachte dann per Zufall der Schieberegler für die Farbsättigung, der auch aus dem gräulichsten Grau plötzlich psychedelisch-fröhliche Farben und Formen zauberte. Überrascht und fasziniert machte Theinert die Entdeckung zur Strategie, mit der er seitdem nicht nur die trostlosen Seiten von Großstädten, sondern auch seine Stimmungen immer wieder auf „Farbreste“ abklopft.
 
Die Frage, wie Licht Bilder erzeugt und unsere Wahrnehmungsorgane beeinflusst, führte den Künstler schon vor vielen Jahren zur Ausweitung seines Schaffens in den Raum. „Je tiefer mein Verständnis [des Visuellen] wurde, desto mehr wollte ich diese Erfahrung – den Prozess des Erscheinens und Verschwindens oder des ,Happenings‘ – mit anderen teilen“, beschreibt Laurenz Theinert die Motivation dafür. Bei seinen Rauminstallationen ist ein entscheidender Faktor anders als bei der Fotografie: Hier handeln beide Seiten – Kunstproduzent und Rezipierende – in aktiven Rollen (anstatt, wie bei der Fotografie, nur aus der Betrachtung im Nachhinein Schlüsse ziehen zu können). Bei den Rauminstallationen sind alle Beteiligten gleichermaßen Forschende. Produzent und Rezipierende handeln zwar zeitlich versetzt, aber doch direkt und unvermittelt im Raum, machen Entdeckungen mit Licht, Raum und sich selbst. 
 

Ein Beispiel für eine solche künstlerische Versuchsanordnung ist die Installation Gespinst, die Theinert seit 2008 an verschiedenen Orten umsetzt. (Abb. S. 14, 15, 27) Er spannt dafür am jeweiligen Ausstellungsort Elektrolumineszenz-Kabel wie eine dreidimensionale, in Diagonalen kreuz und quer verlaufende Linienzeichnung, die den Raum in Höhe, Breite und Tiefe durchmisst. Teilstrecken der Kabel leuchten wechselweise in strahlend weißem Licht auf. Die Impulse jedes Kabels folgen einem eigenen, regelmäßigen und langsamen Rhythmus. Durch Ungenauigkeiten in der Steuerungstechnik ergeben sich für jedes Kabel unterschiedliche Geschwindigkeiten.

Unsere visuelle Wahrnehmung hat hier zweierlei Phänomene zu verarbeiten: Einerseits die – perspektivische Widersprüche erzeugenden – räumlichen Beziehungen zwischen Kabeln und Architektur: Was ist vorne? Was liegt hinten? Andererseits die zeitlichen Beziehungen zwischen den rhythmisch aufscheinenden Lichtlinien. Es fällt nicht leicht, sich auf das An und Aus einer einzelnen Linie zu konzentrieren, sie quasi für sich als „Individuum“ zu sehen. Viel stärker neigen wir dazu, unsere Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel der aufblinkenden Linien als Ganzes zu richten. Wir versuchen, das hinter dem Lichtspiel liegende „System“ zu entschlüsseln. Dies kann uns nicht gelingen, denn: Es ist ja kein System vorhanden. Wann immer wir denken, ein Muster ermittelt zu haben, weicht das Blinken von dem gerade Entdeckten wieder ab. Was sich stattdessen durch die Fokussierung, Wiederholung und Verlangsamung des Wahrnehmungsprozesses zu erkennen gibt, ist die Gestalt- und Musterorientierung unseres Gehirns. Sie geht so weit, dass es sogar selbstständig Muster und Gestalten produziert. Von der Betrachtung der Rauminstallation wechseln wir zur Selbstbetrachtung. Wir spüren den innigen Wunsch, ein Muster zu finden. Und: Wie schwer es uns fällt, die Nicht-Muster als solche hinzunehmen.

Was sehen wir tatsächlich? Was sagt das Bild, das wir uns machen, über die Wirklichkeit? Laurenz Theinert gibt auf diese Fragen keine Antworten. Aber in seinen Werken bremst er den komplexen Prozess des Sehens, der normalerweise mit rasanter Geschwindigkeit und unterbewusst abläuft, wie auf Zeitlupe ab und richtet die Aufmerksamkeit gezielt auf Einzelaspekte des Geschehens. Er macht beobachtbar, was auf dem Weg von einem Seheindruck, einem Lichtimpuls im Außen, über die physischen Sehorgane und die Beiträge von Denken, Fühlen, Verbinden, Deuten im Gehirn passiert, bevor in uns etwas entsteht, das wir als Wahrnehmung oder als Erkennen bezeichnen. Die Abläufe und Automatismen, Bedingungen und Bedingtheiten zu beobachten, die Wahrnehmung ausmachen, kann ein faszinierendes Erlebnis sein. Aber man kann sich angesichts der hier erlebbaren Beschränkungen der eigenen Erkenntnisfähigkeit auch plötzlich ziemlich blind fühlen. Für dieses Dilemma hat Laurenz Theinert keine Lösung. Doch er macht mit seinen Werken immerhin das Angebot einer Trainingszone, in der man sich beim Reflektieren der Wege und Grenzen von Wahrnehmung begegnet und vielleicht neue Perspektiven entwickelt auf das, was zu sehen ist.
 
Dr. Julia Otto ist seit 2005 Kuratorin am Kunstmuseum Celle mit Sammlung Robert Simon. Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören Lichtkunst und raumorientierte Kunst, insbesondere das Zusammen- und Wechselwirken zwischen Kunstwerk, Ort, Moment und Mensch.