Marko Schacher

Zur Serie ‚Zeitfenster‘
von Laurenz Theinert

„Befremdlich“ ist vielleicht der adäquateste Begriff, um den ersten Eindruck vor Laurenz Theinerts „Zeitfenstern“ zu umschreiben. Vor bzw. auf (oder in?) einer riesigen, etwa 70 bis 90 Prozent der Bildfläche ausmachenden grauen, in der Zweidimensionalität verharrenden Fläche, sind als verschieden große Farb-lnseln Gruppierungen von Menschen zu sehen. Die natürlichen Farben wirken seltsam verzerrt und verfremdet. Die Köpfe verschiedener Damen sind dunkelgrün. Genauer gesagt: Ihre Haare sind grün. Die Gesichter selbst sind fast schwarz. Auch die ursprünglichen Farben der jeweiligen Kleidung sind getilgt. Stattdessen scheinen die Körper „durchsichtig“ geworden zu sein und wie ausgestanzte Schablonen die dahinter liegenden Schaufenster zu zeigen.

Ein links aus dem Bild eilender junger Mann trägt in seiner Leistengegend das Bild einer sommerlich bekleideten Schaufensterpuppe mit sich. Ansonsten ist die farbenfrohe Konsumwelt – ganz offensichtlich handelt es sich bei den Protagonisten um einkaufswütige, mit vollgestopften Einkaufstaschen beladene Flaneure – regelrecht ausgeblendet, das heißt hinter bzw. unter der grauen Fläche verborgen.

Hier und da gemahnt ein aus der grauen Masse herausragendes Werbebanner, allerdings ebenso grau wie die Umgebung, an die nicht sichtbare zweckgebundene Architektur. Die Umrisse von einigen stehenden Personen und vor allem von Bäumen scheinen in die graue Fläche „eingraviert“ zu sein, was sie als geisterhafte Wesen erscheinen lässt. Wer sich nicht bewegt, scheint zum Untergang im grauen Bildsumpf verdammt zu sein.

Die sich Bewegenden wiederum werden von einem Doppelgänger verfolgt bzw. angeführt, scheinen quasi neben sich zu stehen, respektive zu laufen. Überall multiple Persönlichkeiten, wohin man sieht! Dr. Jekyll und Mr. Hyde gehen Hand in Hand. Die Köpfe und Oberkörper einiger Passanten weißen ein Wabenmuster auf. Eine ältere Dame scheint Steine mit sich zu schleppen. Der Mensch ist zum Container seiner Umgebung geworden.

Wie bereits die vielen Anführungszeichen und „bzw.“ in diesem Text zeigen, ist die Sachlage alles andere als eindeutig. Man ahnt des Rätsels Lösung, ist aber auch nach dessen Auflösung, keineswegs weniger fasziniert von den Bildern. Im Gegenteil. Am meisten mag der an sich einfache und relativ unaufwendige Herstellungsprozess der Bilder verwundern: Ausgangspunkt sind zwei unmittelbar hintereinander vor Ort aufgenommene digitale Fotografien ein und desselben Realitätsausschnitts. Vom zweiten, etwa eine Drittel Sekunde später aufgenommen Foto wird mittels eines Bildbearbeitungs-Programms ein „Negativ“ hergestellt und dann am Computer über die erste Fotografie gelegt. Dadurch löschen sich alle Bildteile, die sich zwischen den beiden Aufnahmen nicht verändert haben, quasi aus und vereinen sich zur gleichmäßigen 50-Prozent-Schwarzfläche, das heißt zur einheitlichen Graufläche. Die Bildteile, die sich verändert haben, sind dagegen als Positiv und als Negativ sichtbar.

Am so entstandenen Bild wird nichts mehr bearbeitet oder retuschiert. Es wird als Pigmentdruck auf feinstem Bütten-Papier ausgedruckt und auf Aluminium aufgezogen. Das Resultat: Durch die Überlagerung zweier Zeitpunkte macht Laurenz Theinert ein Zeitkontinuum, einen Zeitraum sichtbar. Der Titel der Arbeiten ist gut gewählt. Theinerts Fotografien sind in der Tat „Zeitfenster“, eindrucksvolle Vergegenwärtigungen des unaufhaltsamen Zeitflusses, der nicht nur die Einkaufspassagen dieser Welt hinunterrauscht.

Statt einzelne Passanten zu fokussieren und so die Straßenszenen zu individualisieren (wie es beispielsweise der Künstler Beat Streuli macht) hat es dem Künstler offenbar das gesellschaftliche Geschehen auf der Straße angetan. Laurenz Theinert dokumentiert Stadtansichten ohne Stadt. Die im Herzen von Northhampton und weiteren Großstädten aufgenommenen Bilder zeigen die sich durch die Architekturschluchten schlängelnden Menschen und blenden die Architektur dabei aus. Es sind Architekturfotografien ohne Architektur, farblich und ästhetisch äußerst reizvolle Annäherungen an die individuellen Geschwindigkeiten von Stadtbewohner, die weit über die Bewegungsstudien von Muybridge hinaus gehen. Durch die Dopplungen weht ein Hauch Surrealität durchs Bild. Die nicht exakt benennbaren räumlichen Anordnungen der über und ineinander liegenden Farbflächen führt dem Betrachter die Zweidimensionalität und Materialität der Fotografie vor Augen und entlarvt das vermeintliche „Fenster in die Realität“ als Flachware.