Ralf Christofori

„Abstraktion und Täuschung“,
zu den fotografischen Bildern
Laurenz Theinerts

Gibt es sie, die ‚abstrakte‘ Fotografie? Man hat sich des öfteren diese Frage gestellt, und schon die Tatsache, dass dieser Begriff existiert, legt deren Bejahung nahe. Falls aber dieser Begriff seine Berechtigung haben sollte, was könnte er bestenfalls aussagen? Wird nicht jeglicher Versuch einer Abstraktion durch Fotografie bereits im Keim erstickt? Oder ist nicht jedes fotografische Bild eine Abstraktion?

Fotografie behauptet immer schon Repräsentation. Dies auf der Basis einer Annahme, welche den Gegenstand, der abgebildet wird, tatsächlich, das heißt faktisch voraussetzt. Dieser Gegenstand schreibt sich indexikalisch ein in eine lichtempfindliche Schicht. Dort wird er wiederum sichtbar. Der Rückbezug vom fotografischen Bild auf seinen Referenten ist möglich im Sinne einer Homomorphie, welche das Dreidimensionale auf eine Fläche projiziert.

Ist also fotografische Abstraktion möglich? Ja. Nein. Und Ja.

Ich würde sagen: Ja, sofern man die Realität des Bildes vom Apriori einer gegebenen ‚realen‘ Wirklichkeit abgrenzt. Dies deshalb, weil Realität und fotografisches Bild per se nicht verglichen oder abgeglichen werden können. Einen Abstraktionsgrad der Fotografie ermitteln zu wollen, führt unweigerlich zu jenem Missverständnis, das nicht nur auf dem gängigen Bewusstsein vom fotografischen Bild als einem neutralen Abbild der Realität beruht, sondern mithin auf der Annahme, der Fotoapparat sei eine ebenso neutrale Durchlaufstation auf dem Weg vom Ding zum Bild. Jede Fotografie ist eine Abstraktion.

Ich würde sagen: Nein, sofern es um eine mögliche Abstraktionsleistung der Fotografie geht. Bei der sogenannten abstrakten Fotografie scheint das Bild gänzlich ohne Referenten auszukommen oder zumindest die Relation zwischen Bild und Referenten nicht eindeutig im Sinne einer indexikalischen Repräsentation benennen zu wollen. Auf diesem Wege wird das fotografische Bild scheinbar autonom. Es schüttelt die Fesseln der Repräsentation ab und behauptet eine eigenständige Realität. Aber das geschieht, wie gesagt in jeder Fotografie. Jede Fotografie erzeugt eine Abstraktion.

Und ich würde sagen: Ja, sofern damit eine Abstraktionsleistung des Betrachters gemeint ist. Wir sehen Fotografien und gleichen sie mit jenen Bildern der Realität ab, die uns geläufig sind, die wir uns angeeignet haben. Der Akt der Wahrnehmung korrespondiert dabei mit einer Abstraktionsleistung, die unsere kognitiven Bilder abruft, um das, was wir sehen, erkennen zu können. Es ist auch dies ein Akt der Repräsentation, der jedoch nicht zwischen Realität und Bild, sondern zwischen Bild und Bild erfolgt. Denn wie gesagt: Wir sind nicht in der Lage, das Bild mit der Realität abzugleichen, sondern lediglich mit den Bildern, die wir uns von der Realität machen. Jedes Betrachten einer Fotografie ist ein Akt der Abstraktion.

Laurenz Theinerts fotografische Arbeiten benennen auf einer formalen Ebene leicht zu identifizierende Kategorien. Es sind zumeist schwarze Linien auf weißem Grund, in selteneren Fällen weiße Linien auf schwarzem Grund. Bereits dieser erste Versuch, seine Arbeiten begreifen und beschreiben zu wollen, bekundet eine Abstraktionsleistung, die das, was man sieht, gedanklich strukturiert. Wohlgemerkt: gedanklich in visueller Hinsicht. Die serielle Ordnung, in der ein Bild dem nächsten folgt, vermittelt einen Gesamteindruck, der das Muster der Beschreibung öffnet, der den Blick für Nuancen und feine Unterschiede sensibilisiert.

Die Tatsache, dass wir es hier mit fotografischen Bildern zu tun haben, verstört. Es ist das vermeintliche Wissen um die Fotografie, das Laurenz Theinert befragt, indem er einen Referenten wählt, der sich als solcher weder visuell noch kognitiv erschließt. Dennoch gibt es ihn, diesen Referenten. Hinter dem Fadenkreuz zweier unscharfer Linien, die sich in der Bildmitte kreuzen, verbergen sich zwei Stromleitungen – die eine verläuft horizontal, die andere vertikal. Der Fokus variiert innerhalb der Serie von Aufnahmen. Er verortet die Distanz zweier Linien innerhalb einer Unschärferelation, die einzig als apparatische Funktion existiert (Abb. 13).

In einem anderen Fall sind es sechsunddreißig verschiedene Kamerastandpunkte, die den Blick auf ein Fenster dokumentieren. Hier liefert die Perspektive eine ganze Reihe von Bildrealitäten (Abb. 7) Und es ist in einem weiteren Beispiel die Eigendynamik des Filmmaterials selbst, das zu einer fotografischen Serie führt: Die im Verlauf der Serie zunehmende Überbelichtung einer weißen Fläche lässt die Grenzen zwischen den einzelnen Bildern ein und desselben Filmstreifens fast verschwinden (Abb. 2/2).

Ein Referent ist also tatsächlich immer gegeben. Laurenz Theinert aber überantwortet diesen Referenten dem Fotoapparat, dem Filmmaterial, der Fotografie als solcher. Die Nuancen, die feinen Unterschiede zwischen den einzelnen Bildern einer Serie resultieren aus der spezifischen Funktion und Dysfunktion des Apparates. Schärfen und Unscharfen, verschiedene Perspektiven und Brennweiten sowie die Eigendynamik des Materials selbst sind maßgebliche, wenn nicht gar die eigentlichen Variablen dieser Arbeiten. Das Bild verweist auf sich selbst, auf die Bedingungen seiner Hervorbringung, auf diejenige Abstraktionsleistung, die bereits im Medium selbst angelegt ist. Jede Fotografie ist eine Abstraktion.

In einem sogenannten ‚intermedialen‘ Kontext würden wir die Bilder von Laurenz Theinert eher mit Malerei oder Zeichnung, mit Minimalismus oder Suprematismus in Verbindung bringen. Sie sind Malereien oder Zeichnungen in dem Sinne, als sie eine Realität mehr erzeugen denn abbilden. Und sie erinnern an Minimalismus und Suprematismus, insofern als sie scheinbar auf jeglichen Referenten verzichten. Beide Momente widersprechen den Charakteristika der Fotografie.

Wir wissen, dass die Fotografie diesen Referenten braucht, um überhaupt etwas sichtbar werden zu lassen. Dieser Referent aber ist im Falle von Laurenz Theinerts fotografischen Arbeiten nicht vordergründig in der Realität zu suchen. Referent ist die Fotografie als solche. Respektive die jeweilige schwarze Linie oder die weiße Fläche. Bei Malewitsch war es das schwarze Quadrat, die weiße Fläche – und die Malerei als solche. Bei Theinert ist es ein produktiver Reflex auf die Fotografie. Und sie reflektiert insgeheim die Botschaft: Jede Fotografie erzeugt eine Abstraktion.

Das heißt also, selbst wenn wir in der Lage sind, die Abstraktionsleistung der Fotografie im Übergang vom Gegenstand zum Bild zu vollziehen, stoßen wir im Zuge einer deutenden oder bedeutenden Lesart des Bildes an eine weitere Grenze. Wir sehen Fotografien und gleichen sie mit jenen Bildern der Realität ab, die uns geläufig sind, die wir uns angeeignet haben. In diesem Akt der Wahrnehmung wird jene Abstraktionsleistung virulent, welche zwischen Bild und Bild vermittelt.

Unsere visuelle wie kognitive Kompetenz aber scheitert bei Laurenz Theinert daran, dem vordergründig formalen Zusammenhang eine Bedeutung zuzuschreiben, welche beim Lesen der fotografischen Botschaft in der Regel an die Inhalte des Abgebildeten geknüpft ist. Der Akt der Repräsentation erschließt hier weder Inhalte noch Bedeutung. Er verweist lediglich – und das ist alles andere als ein Defizit – auf das Bild selbst, auf dessen apparatische Hervorbringung und auf die Voraussetzungen beim Betrachten der Fotografie. Jedes Betrachten einer Fotografie ist ein Akt der Abstraktion.

Gibt es sie also, die ‚abstrakte‘ Fotografie? Laurenz Theinerts fotografische Arbeiten sind nur im genannten Sinne Abstraktionen, sie erzeugen Abstraktionen und erschließen sich in einem Akt der Abstraktion, der den Betrachter erst auf Umwegen ans Ziel führt – wenn überhaupt. Es ist die bestechende Magie dieser strengen Auffassung, welche die Fotografie im Grunde an das zurückbindet, was sie ist. Vor diesem Hintergrund ist die Magie sehr real. Und auch die Abstraktion ist nur eine Täuschung.