Winfried Stürzl

Visual Piano

Feine Linien aus Licht tasten die Wände ab und verdichten sich zu bewegten Netzen, die den Betrachter wie die Raumsimulationen eines riesigen Computerbildschirms umschließen. Wei­ße, rechteckige Flächen lösen die Linien ab. Erst winzig, dann plötzlich mannshoch blitzen sie stroboskopartig an unvorhergesehenen Orten auf – sich verformend, sich umstülpend, »tanzend«. Schließlich verschmelzen Linien und Flächen zu pulsierenden Mustern aus psychedelischen Farben und kristallinen Formen – und hinterlassen nach ihrem Verschwinden den Betrachter in einem regelrechten Farbrausch.

Das »visual piano«, ein weltweit einzigartiges Instrument, mit dem sich bewegte (Raum-) Bilder dieser Art erzeugen lassen, wurde von dem Lichtkünstler und Fotografen Laurenz Theinert gemeinsam mit den Softwareentwicklern Roland Blach und Phillip Rahlenbeck konzipiert und entwickelt. Eine MIDI-Tastatur erlaubt es, verschiedenste grafische Muster zu generieren und per Beamer auf eine oder auch mehrere Leinwände zu projizieren. Anders als bei der gängigen VJ-Soft- und Hardware basieren die spontanen, dynamischen »Lichtzeichnungen« hier nicht auf gespei­cherten Clips: Jeder Moment der Aufführung wird über Keyboard und Pe­dale live und in Echtzeit gespielt und moduliert.

Projizierte Theinert seine Lichtzeichnungen zunächst frontal auf eine Lein­wand, erlaubt ihm die 360°-Projektionstechnik heute die Ausdehnung der visuellen Betrachtererfahrung ins Räumliche. Die Intensivierung des Seherlebnisses ist verblüffend: Die Fixpunkte des verdunkelten realen Raums werden durch große und bewegte Strukturen aus Licht ersetzt, der Betrachter taucht in einen völlig neuen Kosmos aus bewegten Linien, Flächen und Farben ein.

Waren in den Frontal-Performances die Reminis­zenzen an die Malerei des Konstruktivismus und an andere konkrete Posi­tionen der Kunstgeschichte unverkennbar, treten nun architektonische und technische Assoziationen in den Vordergrund. Nicht umsonst fühlt man sich bei den bewegten Linien an computergenerierte 3D-Simulationen oder an Laserstrahlen erinnert. Der symmetrische Aufbau der Projektion lässt darüber hinaus kristalline Formen entstehen, die an Gestaltungsprin­zipien des Art-déco oder an die utopistischen Entwürfe expressionistischer Architektur – etwa der Gläsernen Kette – denken lassen und in ihrer psy­chedelischen Farbigkeit zugleich die Ästhetik der 1960er Jahre zitieren.

Erscheinungsform und Anspruch gehen hier Hand in Hand. Das ernsthafte Ausloten zeitgemäßer künstlerischer Strategien im Umgang mit dem abs­trakt-immateriellen Medium Licht liegt in den »visual piano«-Performances ganz bewusst nahe am – anspruchsvollen – Entertainment.